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DER ALTE MANN UND DAS BIER von Pfr. Haiko Behrens…

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Pfr. Haiko Behrens, Synodalrat Weltweite Kirche, Freiwilligenarbeit und Gender

November 2022 – Artikel veröffentlicht auf religion.ch

Pfarrer sein, in der heutigen Zeit – da begegnet einem schon die eine oder andere Kuriosität. Haiko Behrens, im Amt mit Leib und Seele, lässt uns hinter die Kulissen blicken.

Die Dienstbesprechung neigt sich dem Ende zu und meine Sekretärin setzt diesen «Jetzt- musst- du- dich- aber- wirklich- mal- kümmern-Ausdruck» auf, wie sie es immer tut, wenn es um alte und/oder kranke Gemeindeglieder geht, die ihrer Meinung nach dringend seelsorgerlicher Betreuung durch den Pfarrer bedürfen.

Sie schaut mich eindringlich an und sagt: «und dann ist da noch Herr F. Herr F. ist gerade 96 Jahre alt geworden, und sein Sohn bittet dringend um einen Besuch des Pfarrers. Es ist die letzte Zeit immer schwieriger mit ihm geworden.»

Ich nicke verständnisinnig. Wie häufig haben es Söhne und Töchter schwer mit ihren alternden Eltern. Da sind die körperlichen Gebrechen, häufig auch Demenz im finalen Spiel des Lebens. Die Rollenverteilung ändert sich; die Kinder sorgen für ihre Eltern. Die Eltern wiederum sind frustriert ob ihres sich verschlechternden körperlichen Zustandes und der Abhängigkeit von ihren Kindern und lassen diesen Frust immer mal wieder auch aggressiv an ihnen aus. Dazu kommt das ebenso unausgesprochene wie unausweichliche Fatum, dass Gevatter Tod auf seinem Weg zum finalen Besuch bei den Eltern in die Zielgrade eingebogen ist.

NATÜRLICH – TRAURIGE THEMEN 

So ist das Leben. Zerbrechlich, schmerzhaft, endlich. Und die Auseinandersetzung damit, das Sitzen an Betten von Sterbenden, das begleitende Hoffen, Beten und schliesslich unvermeidliche Loslassen, sind das kleine und doch so grosse Einmaleins pastoralen Handelns. So auch jetzt. Da ist jemand, der seinen 96jährigen Geburtstag feiern konnte.

VIELE SEINER FREUNDE WERDEN NICHT MEHR LEBEN.

Sicherlich blickt er altersweise-elegisch und mit trüben Augen auf eine lange, an Höhen und Tiefen reich gesegnete Zeit. Viele seiner Freunde werden nicht mehr leben. Er wird mit sich, seinen Erfahrungen und Erlebnissen sehr alleine sein. Zur Vorbereitung blättere ich im Kirchenbuch und stelle fest, dass seine Frau bereits vor zwei Jahren verstarb. Und seine Kinder werden höchstwahrscheinlich ihr eigenes geschäftiges Leben führen, eingespannt in Familie und Beruf. 

Es scheint also einsam um Herrn F. zu sein. «Ist Herr F. dement?» frage ich meine Sekretärin. «Der Sohn sagt, er sei sehr eigenwillig», antwortet sie. Aha. «Eigenwillig» ist hier das Codewort. Die Wenigsten sprechen offen darüber, dass ihre Eltern dement sind. Und so mache ich mich direkt am nächsten Morgen, ein Büchlein in Grossdruck mit dem Titel «Der Himmel leuchtet Dir. Die letzte Zeit enstpannt geniessen» in der Hand und mit einem guten Sakko angetan, auf den Weg zu Herrn F. Aus Erfahrung weiss ich, dass die alten Herrschaften sich über Bücher mit Sinnsprüchen in einfachem Deutsch freuen. Und so stehe ich nach kurzer Fahrt vor einem grossen, weiss verklinkerten Haus und läute an der ausladenden, aus dunklem Holz bestehenden Eingangstür. 

BEI DEN ALTEN HERRSCHAFTEN HAT DAS AMT EBEN NOCH AUTORITÄT

Die Tür summt, und ich trete ein. Ein Herr hinter einem Glaskasten fragt nach dem Anliegen meines Besuches, ich stelle mich kurz als der hiesige Ortspfarrer vor. «Meine Sekretärin hat mich zu einem Geburtstagsbesuch angemeldet. Ist Herr F. in der Lage, Besuch zu bekommen?» Der Pförtner greift zum Telefon. Ich höre Wortfetzen wie «jaja … ein Pfarrer … Zeitfenster … Herren aus Osaka haben gecancelt …». Dann legt er auf, weist auf den Fahrstuhl und sagt: «Herr F. lässt bitten. Neunter Stock, Zimmer 913, bitte bei Frau Stöger melden.» «Frau Stöger, ist das die Stationsleitung?» Der Pförtner lacht. «Ja, sozusagen.» Ich steige in den Lift, fahre gen Himmel und klopfe an die Tür von Zimmer 913.

Eine adrett gekleidete Frau, die sich als Brigitte Stöger vorstellt, schüttelt mir die Hand, geleitet mich in einen mit Ledersesseln und Zeitschriften ausgestatteten Raum mit Flachbildfernseher, in dem n-tv in Endlosschleife läuft, offeriert mir eine Tasse Kaffee und bittet mich mit den Worten «Herr F. lässt sie bitten, noch ein wenig zu warten», Platz zu nehmen. Sie geht, kommt wenige Augenblicke später mit einem Kaffee zurück, lässt die Tür zum Flur halb offen und entschwindet meinen Blicken. 

In der Annahme, dass Herr F. vielleicht gerade gewaschen und für meinen Besuch zurechtgemacht wird, lasse ich mich in einem der Sessel nieder und wende mich dem Börsengeschehen auf n-tv zu. Ich schmunzle ein wenig in mich hinein. Die älteren Leute sind häufig sehr aufgeregt, wenn der Pfarrer kommt, und wollen sich von ihrer besten Seite zeigen. Bei den alten Herrschaften hat das Amt eben noch Autorität. Sehr gut! Ich nippe an der Tasse und fühle mich wichtig. 

MIT SO EINER EINSTELLUNG KANN MAN VIELLEICHT EIN ALTERSHEIM BETREIBEN

Auf einmal höre ich jemanden laut schimpfen. Ist das Herr F.? Im Lehrbuch «Seelsorge an Dementen leicht gemacht» heisst es: «Demenz führt häufig zu für die Angehörigen unvorhergesehenen Stimmungsschwankungen und aggressiven Ausbrüchen.» Ich bleibe daher ungerührt sitzen. Manche der geneigten Leserschaft mögen mich jetzt für eine kühle Person halten. Aber das macht nun mal die Erfahrung von knapp neunzehn Jahren Pfarramt aus: Ich habe alles schon gesehen und bin ziemlich abgehärtet. Nichts bringt mich mehr aus der Fassung. Ich bin ruhig, cool und krisenfest, ein gestandener Pfarrer eben.

Eine Tür nebenan wird geöffnet, ich wende meinen Blick verstohlen von der sinkenden Bayer-Aktie ab und sehe aus den Augenwinkeln, wie zwei Herren in guten Anzügen den Flur herab in Richtung Lift eilen. Eine kleine Gestalt mit dem Rücken zu mir fuchtelt mit der Faust und ruft ihnen hinterher: «Ich bin vielleicht älter als sie, aber nicht blöder! Ihr Service ist doch ein Witz! Mit so einer Einstellung kann man vielleicht ein Altersheim betreiben, sie Grünschnäbel!» Die gescholtenen Herren verschwinden im Lift. Dann wendet sich der Faustschüttler der Tür meines Warteraumes zu, öffnet sie und geht mir schnellen Schrittes entgegen. 

HERR PFARRER, WILLKOMMEN BEI SCHAUMFLÄSCHLI! ICH FREUE MICH SEHR, DASS SIE UNSERER FIRMA ENDLICH EINEN BESUCH ABSTATTEN!

Ich stehe auf. Vor mir steht ein kleiner, sehr energisch wirkender älterer Herr in einem eleganten grauen Anzug mit roter Krawatte und farbgleichem Einstecktüchlein. Seinen Kopf umgibt ein weiss umlockter Haarkranz. Ich blicke in wache, unbebrillte Augen, spüre einen festen Händedruck und höre eine ebensolche Stimme, die sagt: «Herr Pfarrer, willkommen bei Schaumfläschli! Ich freue mich sehr, dass sie unserer Firma endlich einen Besuch abstatten! Folgen sie mir in mein Büro, ich bin sicher, dass wir ins Geschäft kommen werden. Glauben sie mir. Es wird sich für uns beide lohnen.» Er schaut mich mit einem gewinnenden Lächeln an. Es ist eindeutig: Herr F. ist gewaschen. Und zwar mit allen Wassern.

Mir bleibt die Spucke weg. Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll. Und so frage ich etwas verdattert « … wie … wie … jetzt?» Herr F. schaut mich mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung an und erwidert: «Ich fürchte, ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten, sie ist etwas kurz. Ihr Pfarrer seid doch sonst nicht so verlegen um Worte. Aber besprechen wir doch alles in Ruhe. Kommen Sie. Und lassen Sie Ihren Kaffee ruhig stehen. Bei mir gibt’s gleich etwas Feines.» 

WILLKOMMEN BEI SCHAUMFLÄSCHLI!

Ich kann gerade noch das Mitbringsel greifen und schon packt er mich herzlich-fest an der Schulter und schiebt mich aus dem Warteraum nach nebenan in sein grosszügig gehaltenes Büro mit riesigem Fenster, das von luftiger Höhe und einem strahlend blauen Himmel einen phantastischen Blick auf die Stadt Basel feilbietet. Auf Herrn F.s riesigem Schreibtisch stehen ein Computerbildschirm sowie weitere digitale Gerätschaften. An den Wänden hängen einige wertvoll wirkende Gemälde neben alten und neueren Bierreklamen. 

Herr F. drückt mich auf den eleganten Lederstuhl vor dem Schreibtisch und nimmt selbst auf der anderen Seite in seinem thronartig gehaltenen Chefsessel Platz. Dann drückt er auf den Knopf eines kleinen Geräts und bellt: «Brigitte, ich möchte die nächste Stunde nicht gestört werden.» Schliesslich wendet er sich mir zu, spreizt die Hände zur berühmten Merkel-Raute und hebt an zu einer längeren Rede: «Herr Pfarrer, ich will Ihnen zunächst einen kurzen Überblick zur Geschichte und dem heutigen Standing unseres Unternehmens geben: Die Firma Schaumfläschli wurde von Herrn Eduard Schaum, einem Bierbrauermeister, gegründet. Er beschäftigte zunächst nur vier Mitarbeiter und einen Lehrling. Dieser Lehrling war ich. Kurz nachdem ich ausgelernt hatte, starb Herr Schaum leider viel zu früh kinderlos und ich übernahm die Firma. Es gab gute Zeiten und es gab auch schwierige Zeiten. Ich entwickelte Biere in verschiedenen Geschmacksrichtungen und formte aus einer kleinen Brauerei ein international operierendes Unternehmen. Heute beschäftigt die Brauerei Schaumfläschli knapp 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir exportieren ins europäische Ausland sowie nach Vietnam, Japan, Südkorea, Indien, Thailand, Angola, El Salvador, Brasilien, Bolivien und Kanada. Going global, wenn sie verstehen, was ich meine.» 

Verstohlen versuche ich während des Biersermons das Büchlein «Der Himmel leuchtet Dir. Die letzte Zeit enstpannt geniessen» unauffällig in meiner Sakkotasche verschwinden zu lassen. Herr F. fährt derweil fort. «Jedoch ist Schaumfläschli bei aller Internationalität immer das geblieben, was es war: Schaumfläschli, nicht Schaumschläger. Ein Bier aus der Region. Für die Region. Spitzenqualität.» Pause. Herr F. blickt mich fragend an. «Können Sie mir folgen?»

MEIN GEBURTSTAG?

Ich höre auf, in meiner Tasche zu nesteln. «Äh, ja sicher, aus der Region, für die Region. Immer Spitzenqualität», versuche ich mich stammelnd an einer kurzen Zusammenfassung des Gesagten. «Sehr gut», grunzt Herr F. zufrieden. Dann beugt er sich zu mir vor:

«Nun, Herr Pfarrer, kommen wir zum geschäftlichen Teil unseres Gesprächs. Was verschafft mir denn die Ehre Ihres Besuches? Sie sind doch sicherlich nicht nur gekommen, um die Firmengeschichte von Schaumfläschli zu hören. Brauchen Sie ein paar Kästen Bier auf Kommission zu Ihrem Gemeindefest? Wollen Sie einen Sponsor für eine Veranstaltung? Wollen Sie mich als Mäzen für eine zu gründende Stiftung gewinnen? Nur heraus mit der Sprache. Ich helfe, wo ich kann!»

ACH, JA, JETZT WO SIE ES SAGEN, DA WAR WAS. MEIN GEBURTSTAG! AN DIESEM TAG WAR ICH AUF GESCHÄFTSREISE IN BANGKOK.

Unter Räuspern versuche ich meiner Stimme die verlorengegangene Festigkeit wieder zu geben. «Nun, eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen nachträglich zum 96. Geburtstag zu gratulieren und Gesundheit und Gottes Segen zu wünschen.» «Mein Geburtstag?» Herr F. überlegt. Anscheinend versucht er sich an etwas zu erinnern. «Ach, ja, jetzt wo sie es sagen, da war was. Mein Geburtstag! An diesem Tag war ich auf Geschäftsreise in Bangkok. Die Thais sind sehr gute Kunden von uns.» Herr F. gluckst bei der Erinnerung fröhlich in sich hinein. «Und sie saufen wie die Löcher! Aber vertragen tun sie ja nichts. Ich habe sie unter den Tisch getrunken, und dann haben sie einen neuen Vertrag unterschrieben. Das bringt Kohle!» Herr F. reibt sich vergnügt die Hände. 

Dann schaut er mich leicht misstrauisch an: «Woher wissen Sie, dass ich Geburtstag gehabt habe? Haben Sie da so Listen?» Ich zögere erst, dann antworte ich ehrlich: «Nun, Ihr Sohn rief bei uns an und bat mich, Sie zu besuchen. Er macht sich Sorgen um Sie!» Herr F. lacht bitter auf. «Sorgen um mich? Mein Sohn macht sich Sorgen um mich? Der sollte sich mal lieber Sorgen um sich machen.»

SIE STEHEN UNTER BEICHTGEHEIMNIS?

Ich versuche es auf die seelsorgerliche Tour: «Nun, er denkt an Sie. Und auch ich denke an Sie, und es tut mir sehr leid, dass Sie Ihre Frau verloren haben und nun alleine sind.» Herr F. seufzt tief und betrachtet versunken das Foto einer alten Dame auf seinem Schreibtisch. «Ach ja, meine Luise.» Er hält kurz inne. Dann schaut er wieder auf. «Aber wissen Sie was?» Er verkündet mit blitzenden Augen: «Ich bin wieder Single. Und ich weiss, meine Luise gönnt es mir. Ich war die ganzen Jahrzehnte treu. Aber der Geist ist willig und das Fleisch ist stark, wenn sie verstehen, was ich meine». Er zwinkert mir zu. «Wollen Sie ein Bier?» Herr F. bellt wieder etwas in die Gegensprechanlage, und unversehens steht ein riesiger Krug Schaumfläschli vor mir.

«Aber Ihr Sohn …» versuche ich es von neuem, aber Herr F. winkt ab. «Mein Sohn, wissen Sie, was der gemacht hat? Sie können sich nicht vorstellen, was der gemacht hat. Da kommen Sie nie drauf!» Mir schwant Schlimmes. «Was hat er denn gemacht?» frage ich. «Sie stehen unter Beichtgeheimnis?» fragt Herr F. lauernd. Ich bejahe. Herr F. guckt prüfend, ob die Bürotür auch wirklich verschlossen ist, dann winkt er mir zu. Ich beuge mich vor, ganz Ohr ob der Preisgabe des dunklen Geheimnisses, das mir jetzt anvertraut wird. Herr F. raunt mir leise zu: «Sie werden es nicht glauben, aber mein Sohn hat sich» … er windet sich, als ob er sich vor dem zu sprechenden Wort geradezu ekelt, «… er hat sich pensionieren lassen!» «Ist das denn die Möglichkeit», raune ich mit so viel Empathie zurück, wie ich sie angesichts meiner plötzlich hervorquellenden Belustigung aufbringen kann.

UND WISSEN SIE, WAS MEIN FILIUS VON BERUF WAR? LEHRER! ER HAT ALSO PRAKTISCH NIE RICHTIG GEARBEITET.

«Ja, stellen Sie sich das vor!» knarzt Herr F., befriedigt, dass seine Worte bei mir ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Er hebt resignierend die Hände. «Aber was soll ich tun? Er ist schon gross und aus dem Haus. Er hört nicht mehr auf mich.» Herr F. fuchtelt wild mit dem Zeigefinger vor meinen Augen herum. «Aber gross sein und erwachsen sein sind zwei verschiedene Dinge. Das sage ich ihm immer.» 

PLÄNE FÜR DAS ALTER HABE ICH NOCH KEINE GEMACHT

«Wie alt ist denn Ihr Sohn?» frage ich. Der alte Herr schnaubt. «Erst Einundsiebzig. Und seit sechs Jahren pensioniert! Und geht seiner Frau auf die Nerven! Ich habe sie nun bei mir angestellt, um seine Ehe zu retten. Jetzt sitzt sie in der Buchhaltung und verschleudert Geld. Was tut ein Vater nicht alles!» Er schnaubt wieder. «Und wissen Sie, was mein Filius von Beruf war? Lehrer! Er hat also praktisch nie richtig gearbeitet.» Bevor ich dem Faulheitsvorurteil des Lehrerstandes Widerspruch entgegensetzen kann, kündigt das Summen eines Handys auf dem ausladenden Schreibtisch die Ankunft einer Sms an. Herr F. greift nach dem Mobiltelefon. Stolz sagt er: «Ah, das ist mein Urenkel. Der studiert Betriebswirtschaft. Der hat Biss, der hat Talent. Der hat Schläue, Mut und ist gerissen! Er hat sich gerade aus seiner Matheprüfung rausgeschlichen und fragt Uropa nach der Lösung zur Grenzkostenberechnung. Hochinteressantes Thema!»

Herr F. studiert kurz die Nachricht, hämmert etwas in die Tastatur und murmelt «Junge, so was müsstest du eigentlich wissen. Ist doch Kinderkram. Die Grenzkosten = Veränderung der Gesamtkosten, geteilt durch die Veränderung der Produktionsmenge. So. Ab mit der Message. Und viel Glück!» Herr F. schickt die Nachricht ab, legt das Handy weg und sagt triumphierend: «Mein Urenkel wird die Firma eines Tages mal übernehmen.» 

Jetzt wird es spannend. «Wann denn?», frage ich zurück. «Wenn ich mich mal zur Ruhe setze», entgegnet Herr F. «Wann wird das sein?», frage ich. «Och, so genau weiss ich das noch nicht. Pläne für das Alter habe ich noch keine gemacht.» Ich stutze. «Sie sind 96 Jahre alt.» Der Gesichtsausdruck von Herrn F. wird auf einmal sentimental. «Ja, ich bin 96 Jahre alt», sagt Herr F. mit belegter Stimme, «manchmal habe ich das Gefühl, der liebe Gott hat mich vergessen. Deshalb mache ich einfach immer weiter.»

Dann blickt er interessiert auf mein Sakko. «Ich will ja nicht neugierig sein, aber was haben sie denn da in ihrer Sakkotasche? Da guckt was raus, und sie versuchen die ganze Zeit, es zurückzustopfen». Ich fange an zu schwitzen und stammle: «Das, das, sollte eigentlich ihr Geburtstagsgeschenk sein. Aber ich weiss nicht, ob …». Herr F. grinst. «Ach, ist das so ein Alte-Leute-Heftchen? Geben Sie her!» Ich überreiche resignierend das Buch «Der Himmel leuchtet Dir. Die letzte Zeit entspannt geniessen» und erwarte, alsbald vor die Tür gesetzt zu werden. 

Aber nichts dergleichen. Herr F. trinkt einen Schluck Bier und blättert in dem Büchlein. «Die letzte Zeit entspannt geniessen», sinniert er und blickt aus dem sonnendurchfluteten Fenster im neunten Stock. Plötzlich greift er zum Bierkrug und sagt kieksend auf Schweizerdeutsch: «Pfarrerli, kumm stosse mer ufs Läbe aa. Uf der Räscht vo der Ändlichkeit, wo no vor uns liggt. So jung kömme mir nit nomol zämme!» Die Krüge klirren, der Schluck ist tief. Dann schauen wir beide aus dem sonnendurchfluteten Fenster und sagen lange nichts. Erst nach minutenlangem Schweigen seufzt Herr F. und sagt: 

«Ja, der Himmel leuchtet. So nahe. Das ist ein Geschenk.» Wieder Stille. Schliesslich wendet er sich zu mir, schlägt energisch mit der Hand auf den Schreibtisch und sagt bestimmt: 

«Ich mache jetzt Feierabend.» 


Haiko Behrens ist Synodalrat für Weltweite Kirche, Freiwilligenarbeit und Gender in der Evangelisch-Reformierten Kirche Kanton Solothurn und Pfarrer der Evang.-Ref. Kirchgemeinde Dornach-Gempen-Hochwald.