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Causa Locher: «Das System hat Fehlverhalten ermöglicht»

EKS-Präsidentin Rita Famos (links) und Synodepräsidentin Evelyn Borer sind mit der bisherigen Aufarbeitung der Causa Locher zufrieden, sehen aber noch weiteren Handlungsbedarf. (Bilder: Désirée Good)

Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) entschädigt eine ehemalige Mitarbeiterin mit 50’000 Franken. Die Frau hatte sich gegen eine mutmassliche Grenzverletzung gewehrt. Damit kommt die Angelegenheit langsam zu einem Abschluss, wie Rita Famos und Evelyn Borer im Interview erläutern.

03.05.2022 | ref.ch von Johanna Wedl und Vanessa Buff

Frau Borer, Frau Famos, in der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) ist es in der Vergangenheit zu Grenzverletzungen gekommen. Die Aufarbeitung der Causa Locher dauert an. Was haben Sie unternommen, damit Mitarbeitende künftig ausreichend geschützt sind?

Rita Famos: Im Mai 2021 haben wir ein Beschwerdeverfahren etabliert. Darin ist geregelt, was passiert, wenn eine Person das Gefühl hat, ihr werde Unrecht getan. Die Verordnung gilt für Ratsmitglieder und EKS-Mitarbeitende. Im November entscheidet die Synode, ob das Verfahren auf alle budgetrelevanten Gremien ausgeweitet werden soll. Bisher hat niemand eine mögliche Verletzung der persönlichen Integrität gemeldet, zumindest sind dem Rat keine Anschuldigungen bekannt.

Evelyn Borer: Wir haben zwei Jahre lang öffentlich einen Fall durchgespielt. Dabei war es nicht nur der Einzelne, sondern auch das System, das Fehlverhalten ermöglicht hat. Zu sagen «böser Bube weg, alles in Ordnung» funktioniert nicht. Wir haben mit der Aufarbeitung gezeigt, dass Leute sich wehren und sich uns anvertrauen sollen. Es geht auch darum, ein Bewusstsein zu schaffen und zu erhalten, dass Verletzungen der persönlichen Integrität nicht toleriert werden.

Gewählte Personen in der EKS sollen neu eine Selbstverpflichtung unterzeichnen. Darin heisst es unter anderem: «Ich begegne meinen Mitmenschen offen. Ich setze mich dafür ein, dass sie sicher sind.» Schöne Worte – aber führt so ein Papier zu einem besseren Verhalten?

Rita Famos: Jedem Leitbild kann man vorwerfen, es bestehe nur aus schönen Worten. In unserem Fall könnte man sagen, dass bereits in der Bibel steht, wie wir uns verhalten sollen – warum es also nochmals aufschreiben? Und dennoch: Wenn ich gewählt werde und danach diese Selbstverpflichtung unterschreibe, zeigt das, woran ich gemessen werde. Darauf kann man mich ein Stück weit behaften, und das sind wichtige Signale gegen innen und aussen.

«Wir haben zwei Jahre lang öffentlich einen Fall durchgespielt.»


Evelyn Borer, EKS-Synodepräsidentin

Was passiert, wenn jemand gegen die Deklaration verstösst?

Evelyn Borer: Es gibt keine Sanktionen, die Papiere haben keine rechtlich bindende Wirkung. Es sind Sensibilisierungsinstrumente. Zeigt beispielsweise ein Synodaler Fehlverhalten, muss die Landeskirche aktiv werden. Die Mitgliedkirchen müssen ihre Vertreter an diesen Standards messen und darauf hinweisen, wenn sich jemand nicht daran hält.

Rita Famos: Wichtig ist zudem, dass die Selbstverpflichtung nur ein Instrument von mehreren ist. Daneben machen wir Weiterbildungen, in denen es um Sensibilisierung und Prävention geht. Es muss sich eine Kultur etablieren, und dafür muss man kontinuierlich an diesen Themen dran sein.

Personelle Erneuerungen möglich
Rund zwei Jahre nach dem Rücktritt des damaligen EKS-Präsidenten Gottfried Locher wählen die Synodalen an der EKS-Sommersynode in Sion im Juni einen neuen Rat. Von sechs Bisherigen treten vier wieder an, zudem stellen sich zwei Frauen und ein Mann neu zur Wahl. Insgesamt gibt es somit sieben Kandidaturen für sechs Sitze. Die Nicht-Wiederwahl eines bisherigen Ratsmitgliedes ist nicht ausgeschlossen, wäre aber ungewöhnlich. Auslöser der Causa Locher war die Beschwerde einer ehemaligen Mitarbeiterin. Die Frau hatte Locher Grenzverletzungen vorgeworfen. Eine Untersuchungskommission war zum Schluss gekommen, Locher habe die Frau mutmasslich sexuell, psychisch und spirituell missbraucht. Als Grundlage für die Arbeit der Kommission diente ein 200 Seiten umfassender Bericht der Anwaltskanzlei Rudin Cantieni. Dieselbe Kanzlei hatte die Vorwürfe untersucht, die Spitzensportlerinnen im Zusammenhang mit Vorfällen am Institut in Magglingen erhoben hatten. (jow)

In der Vergangenheit kam es beim EKS-Präsidium zu einer Machtkumulation. Wie wollen Sie das künftig verhindern?

Rita Famos: Machtkumulation ist dort möglich, wo verschiedene Player dies zulassen und eine Person gewähren lassen. Um das zu verhindern, müssen alle leitenden Organe der EKS im Rahmen ihrer Zuständigkeiten hinschauen. Synode und Rat haben bereits gehandelt und im Bereich Entschädigungen und Pauschalspesen Anpassungen vorgenommen. Neu kontrolliert das Vizepräsidium einmal jährlich die Spesen des Präsidiums. Zudem haben wir die Zuständigkeiten von Präsidium, Ratsmitgliedern und Geschäftsführerin geschärft und Abläufe geklärt. Das alles hilft, einem Machtmissbrauch vorzubeugen.

Evelyn Borer: Bei anderen Punkten, die von der Untersuchungskommission moniert wurden, sehen wir dagegen keinen Handlungsbedarf. Zum Beispiel wurde die dreigliedrige Leitung bei der Verfassungsrevision ausführlich diskutiert. Wir gehen nicht davon aus, dass die Mitgliedkirchen daran etwas ändern wollen.

Die Beschwerdeführerin in der Causa Locher hatte eine Wiedergutmachung in der Höhe von 145’000 Franken gefordert. Sie erhält nun 50’000 Franken. Das dürfte nicht einmal ihre juristischen Kosten decken.

Rita Famos: Wir haben sowohl mit der Frau wie auch mit ihrer Rechtsvertreterin gute Gespräche geführt und uns gütlich geeinigt. Mehr können wir dazu nicht sagen.

«Die Selbstverpflichtung zeigt, woran ich gemessen werde.
Darauf kann man mich behaften.»


Rita Famos, EKS-Präsidentin

Fakt ist: Gottfried Locher hat eine Abgangsentschädigung mit Lohnfortzahlung ausgehandelt, die um ein Vielfaches höher sein dürfte als der Betrag, den die Frau erhält – und das, obwohl er derjenige ist, dem Fehlverhalten vorgeworfen wird. Finden Sie das gerecht?

Rita Famos: Mir ist wichtig zu betonen: Wir können das entstandene Leid nicht wiedergutmachen. Um höhere Entschädigungen zu verhandeln, hätten alle Beteiligten juristisch tiefer in die arbeitsrechtlichen Details gehen müssen. Das wollten weder die Beschwerdeführerin noch wir. Ich möchte zudem festhalten, dass der finanzielle Aspekt bloss ein Teil der Wiedergutmachung ist. Es gibt auch soziale und persönliche Aspekte. Wir haben der Beschwerdeführerin beispielsweise das Gehör gewährt und sie öffentlich um Entschuldigung gebeten.

Evelyn Borer: Ein zentraler Punkt in der Wiedergutmachung für die Frau war, dass wir die Causa aufarbeiten und solche Verletzungen der persönlichen Integrität künftig nicht mehr möglich sind – wir also unsere Regulatoren ändern.

Rita Famos

Rita Famos (56) präsidiert seit dem 1.1.2021 den Rat der EKS. Sie ist 2018 bereits gegen Gottfried Locher angetreten, ihm damals aber unterlegen. Famos tritt im Sommer zur Wiederwahl als EKS-Präsidentin für die Amtsperiode 2023/2024 an. Da sie keine Konkurrenz hat, ist ihre Bestätigung im Amt so gut wie sicher. Famos lebt in Uster (ZH).

Dazu gehört auch eine Idee von Ihnen, Frau Borer: Sie wollten sich dafür einsetzen, dass EKS-Ratsmitglieder vor einer Wahl ein Assessment durchlaufen. Wird es künftig so etwas geben?

Evelyn Borer: Wir haben versucht, das zu konkretisieren. Doch eine Ratsmitgliedschaft ist ein politisches Amt, die EKS-Rätinnen und -Räte sind nicht von der EKS angestellt. Ich musste mich von der Vorstellung eines Assessments, wie wir das aus der Wirtschaft kennen, verabschieden und meine Erwartungen zurückschrauben. Wir achten aber darauf, dass die Ratsmitglieder verschiedene Fähigkeiten abdecken, dass also zum Beispiel ein Finanzexperte dabei ist, jemand mit HR-Kenntnissen, eine Juristin und so weiter. Die geschlechtliche, kantonale und sprachliche Vielfalt im Gremium ist sowieso in unseren Statuten verankert. Aus unserer Sicht sind hier vor allem die Kantonalkirchen gefordert. Sie sollen Empfehlungen für ihre Kandidierenden abgeben. Wir gehen davon aus, dass sie ihre Leute kennen, also soll auch ein Teil der Verantwortung bei ihnen liegen.

Apropos Verantwortung: Die Erteilung der Decharge für das Jahr 2020 ist aufgeschoben worden. Nun beantragt das Synodebüro, allen ehemaligen und aktuellen Ratsmitgliedern die Decharge zu erteilen ausser Gottfried Locher. Weshalb?

Evelyn Borer: Die Untersuchungskommission ist zum Schluss gekommen, dass die damaligen Rätinnen und Räte ihren Job nach gutem Wissen und Gewissen gemacht haben. Herr Locher dagegen hat jegliche Zusammenarbeit bei der Aufarbeitung der Beschwerde verweigert. Die Aussagen der Untersuchungskommission in diesem Zusammenhang sind eindeutig.

Damit behält sich die EKS die Möglichkeit offen, einen Regress zu nehmen. Ist das geplant?

Evelyn Borer: Diesen Entscheid müsste der Rat fällen. In den bisherigen Gesprächen sind wir aber zum Schluss gekommen, dass das wenig Sinn macht. Die Chancen auf Erfolg schätzen wir als gering ein.

Rita Famos: Der Rat ist zum selben Schluss gekommen. Wir müssten viel Geld in die Hand nehmen für einen Rechtsstreit. Das wäre im Verhältnis zu teuer zu dem, was erreicht werden könnte. Zudem würde die Causa wieder medial aufgegriffen. Das ist nicht in unserem Interesse, und es kann auch nicht in dem von Herrn Locher sein.

Evelyn Borer

Evelyn Borer (62) ist seit dem 1.1.2021 Synodepräsidentin.
Borers Wiederwahl ist für den Herbst vorgesehen.
Sie ist zudem auch seit dem 1.1.2020 Synodalratspräsidentin der Evangelisch-Reformierten Kirche
des Kanton Solothurn. Borer lebt in Dornach (SO).

Sie nehmen es vorweg: Herr Locher hat vor wenigen Wochen in der «Sonntags-Zeitung» seine Sicht der Dinge dargelegt und in einem persönlichen Artikel die reformierte Kirche als «irrelevant» bezeichnet. Was sagen Sie dazu?

Rita Famos: Das entbehrt jeglicher Grundlage und ist schlicht respektlos all jenen Leuten gegenüber, die beruflich oder ehrenamtlich im Dienst der Kirche stehen. Gottfried Locher hat alle Brücken zu den Reformierten in der Schweiz abgebrochen und nun auf unschöne Weise nachgetreten. Ich habe ein Mail bekommen, darin stand: «Er spuckt in die Suppe, die ihn zehn Jahre lang fett genährt hat». Die EKS hat mit Herrn Locher 2020 eine Abgangsvereinbarung abgeschlossen. Kein Topmanager äussert sich nach so einer Unterzeichnung dermassen negativ über seinen ehemaligen Arbeitgeber. Das ist absolut unprofessionell. Hinzu kommt, dass Herr Locher eine unerträgliche Täter-Opfer-Umkehr macht, ohne jede Fähigkeit zur Selbstreflexion. Das hat mich schockiert.

Der entstandene Imageschaden ist gross für die Institution EKS. Wie lässt sich die Reputation wiederherstellen?

Evelyn Borer: Ich bin nicht sicher, wie gross der Schaden wirklich ist. Von katholischen, aber auch reformierten Kolleginnen erhalte ich viele Komplimente. Sie sagen: «Ihr habt euch hingestellt, gesagt, was Sache ist, und danach sauber und zügig aufgeräumt.» Auch das wird gesehen. Aber natürlich sind wir verpflichtet, weiterhin gute Arbeit zu leisten.

Seit Herrn Lochers Rücktritt sind bald zwei Jahre vergangen. Welche Noten geben Sie sich rückblickend selbst für Ihre Arbeit in der Aufarbeitung der Causa?

Evelyn Borer: Ich würde uns mit 5-6 bewerten. Am 3. Januar 2021 haben Rita Famos und ich uns zur ersten Sitzung getroffen. Seither haben wir sehr gute Arbeit geleistet. Das Ergebnis ist bestimmt immer noch verbesserungswürdig, lässt sich aber sehen.

Rita Famos: Die internen Arbeiten waren nur ein Teil. Wir mussten Vertrauen wiederherstellen, gegen aussen etwa zu Bundesbehörden, aber auch intern zum Beispiel in der Konferenz der Kirchenpräsidien. Wir haben einiges erreicht, im Wissen, wir sind keine perfekten Menschen, und unsere Organisation ist es auch nicht. Selbstreflexiv lässt sich sagen, dass wir künftig noch sorgfältiger arbeiten müssen.